Das erste Todesopfer rechter Gewalt in der Zweiten Republik
Am 31. März 2023 stehen wir mit weniger als 15 Personen am Urnenhain des Wiener Zentralfriedhofs. Der Urnenhain liegt abseits des eigentlichen Friedhofs, getrennt durch die Simmeringer Hauptstraße. Nach einem Parkplatz muss man durch zwei Tore gehen und einem kleinen Schotterweg folgen. Versteckt hinter hohen, mit Efeu bewachsenen Mauern steht ein auf den ersten Blick unscheinbarer Grabstein, davor liegt ein frischer Kranz, geschmückt mit roten Nelken. Der Grabstein von Ernst Kirchweger, an dem wir hier stehen, unterscheidet sich von den anderen Grabsteinen auf dem Urnenhain des Wiener Zentralfriedhofs nur durch eine Aufschrift: „Antifaschist“.
Einmal Antifaschist, immer Antifaschist
Hinter der Wiener Staatsoper, am Hotel Sacher, wurde am 31. März 1965 der Kommunist und Widerstandskämpfer Ernst Kirchweger bei einer Demonstration gegen den antisemitischen und nazistischen Universitätsprofessor Taras Borodajkewycz brutal von einem Neonazi und Mitglied des FPÖ-nahen Ring Freiheitlicher Studenten (RFS) niedergeschlagen. Zwei Tage später erlag er, ohne das Bewusstsein wiedererlangt zu haben, seinen schweren Verletzungen und starb im Alter von 67 Jahren. Todesopfer rechter Gewalt in der Zweiten Republik.
Ernst Kirchweger wurde am 12. Jänner 1898 in Wien geboren. Bis zu deren Verbot im Zuge des Austrofaschismus war er sowohl politisch als auch kulturell umfassend in der österreichischen Sozialdemokratie engagiert. Enttäuscht von der Parteiführung trat Ernst Kirchweger 1934 der Kommunistischen Partei Österreichs (KPÖ) bei und war zur Zeit des Austrofaschismus in der illegalisierten Gewerkschaftsbewegung aktiv. Während des nationalsozialistischen Faschismus leistete er Widerstand gegen das Regime. In seiner Wohnung fanden konspirative Sitzungen statt, es wurden ausländische Rundfunksender gehört und Hilfe für Opfer des Regimes und deren Angehörige organisiert. Auch nach Ende der NS-Herrschaft blieb Ernst Kirchweger weiter antifaschistisch aktiv. So beteiligte er sich an den Protesten gegen den rechtsextremen Universitätsprofessor Taras Borodajkewycz 1965 in Wien.
NS-Kontinuitäten in der Zweiten Republik
In einer Atmosphäre der konservativen Erstarrung, in der sowohl die ÖVP als auch die SPÖ um alte Nazis buhlten, brach die Affäre um diesen eher obskuren Universitätsprofessor los. An der Wiener Hochschule für Welthandel hielt Taras Borodajkewycz Vorlesungen über die Zeit zwischen 1918 und 1945. Zu seinen Spezialitäten gehörte es, bei historischen Persönlichkeiten die angebliche oder tatsächliche jüdische Herkunft zu betonen und anschließend Kunstpausen einzulegen, worauf die anwesenden Studierenden öfter in Gelächter ausbrachen. Borodajkewycz war deutschnational, dann nationalsozialistisch, allerdings mit starkem katholischem Einschlag. In den frühen 1930ern war er erst illegaler Nazi und nach dem „Anschluss“ 1938 offiziell Parteimitglied. 1940 wurde er Dozent an der Universität Wien und von 1943 bis März 1945 Professor für Allgemeine Neuere Geschichte an der Deutschen Universität Prag. Nach der Befreiung verbreitete er unverdrossen seinen Antisemitismus und seine NS-Nostalgie vor den jungen Studierenden. Im Rahmen der Entnazifizierung nur als „minderbelastet“ eingestuft, erfolgte 1955 seine Ernennung zum Professor für Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Hochschule für Welthandel, der heutigen Wirtschaftsuniversität Wien.
Doch Antisemitismus war nicht nur unter den Professor:innen verbreitet. Auch die Student:innenschaft war schwer konservativ bis rechtsextrem und deutschnational. Der RFS war bei den Wahlen der Österreichischen Hochschüler:innenschaft (ÖH) mit bis zu 30 Prozent zweitstärkste Fraktion nach den Konservativen. Durch diese rechte Hegemonie an den Universitäten erregten die unwissenschaftlichen Thesen und antisemitischen Ausfälle von Borodajkewycz über viele Jahre kaum Aufsehen.
Protest gegen den Normalzustand
Erst im März 1965 kam es zum Eklat, als Borodajkewycz im Rahmen einer Pressekonferenz erneut antisemitische Aussprüche tätigte. Als Reaktion darauf demonstrierten am 29. März hunderte Studierende und Antifaschist:innen gegen den nazistischen Ungeist an den Wiener Hochschulen. Zwei Tage später, am 31. März 1965, fand am Karlsplatz eine Demonstration der österreichischen Widerstandsbewegung und eines antifaschistischen Studierendenkomitees statt, an der sich fünftausend Menschen beteiligten. Die Proteste wurden angeführt von Überlebenden des NS-Regimes. Zeitgleich organisierten rechtsextreme, deutschnationale Burschenschafter und Mitglieder des RFS Gegenkundgebungen. Mit dabei war auch der einschlägig vorbelastete, rechtsextreme Student, Neonazi und RFS-Mitglied Günther Kümel. Bereits zu Beginn kam es vor der Technischen Universität zu ersten rechtsextremen Angriffen auf den Demonstrationszug. Vor dem Hotel Sacher folgten dann weitere folgenschwere, harte Zusammenstöße mit den rechtsextremen, deutschnationalen Gegendemonstrant:innen.
Der Holocaust-Überlebende, Antifaschist und Zeitzeuge Rudolf Gelbard, der sich damals an den Protesten beteiligt hatte, versucht in einem Interview für den Standard nachvollziehbar zu machen, in welcher Situation sich das damals abspielte: „Man kann sich das heute nicht mehr vorstellen, zwanzig Jahre nach dem Krieg, dass Neonazis wagen derart aggressiv aufzutreten. Das war für uns unerträglich.“ Gelbard schweigt kurz und fügt hinzu: „Besonders für mich als ehemaligen KZ-Häftling.“
Nachdem an diesem 31. März die Rufe „Hoch Boro!“ und „Heil Auschwitz!“ erklungen waren, kam es erneut zu heftigen Zusammenstößen. Augenzeug:innen erzählten später, Ernst Kirchweger sei auf die neonazistischen Demonstrierenden zugegangen, da es ihm nicht verständlich war, wie Menschen so etwas im Jahre 1965 noch rufen konnten. Er suchte den Diskurs wollte mit ihnen reden. Doch dazu kam es nicht. Der 67-jährige Ernst Kirchweger wurde vom Neonazi, vorbestraften Rechtsterroristen und Kampfsportler Günther Kümel mit einem Faustschlag niedergeschlagen. Zwei Tage später starb Ernst Kirchweger, ohne das Bewusstsein wiedererlangt zu haben, an den Folgen des Schlags.
Der Täter, Günther Kümel, wurde wegen Notwehrüberschreitung zu lediglich zehn Monaten Haft verurteilt, von denen er nur fünf absitzen musste. Dieses Urteil ist selbst für damalige Verhältnisse ein Justizskandal und zeigt einmal mehr, dass auf den Staat kein Verlass ist. Vor allem nicht, wenn es um die Bekämpfung rechten Terrors geht. Im Gegenteil: Nach der kurzen Haftzeit konnte Kümel in Innsbruck sein Studium abschließen und seine berufliche Karriere als Virologe beginnen. Heute lebt der mittlerweile über Achtzigjährige unbekümmert in Deutschland im Rhein-Main-Gebiet und verbreitet noch immer sein neonazistisches Gedankengut in diversen rechten Zeitschriften. Er ist gern gesehener Gast bei Veranstaltungen aus dem Verschwörungsmilieu, bei Neonazis und rechten Verbindungen. Die grausame Gewalttat, die Ernst Kirchweger das Leben kostete, ist dabei Teil seiner Reputation und verleiht ihm in rechtsextremen Kreisen Anerkennung und Autorität.
Antifaschistisches Gedenken heute
58 Jahre nach dem Tod Ernst Kirchwegers, 58 Jahre nachdem über zehntausend Menschen auf der Wiener Ringstraße in Gedenken an Ernst Kirchweger protestierten, ist wenig an gelebter Erinnerung übrig. Zu dem Kranz an seinem Grab wird später von einigen jungen Antifaschist:innen noch ein Strauß roter Nelken gelegt. Ein Antifaschist vom Wiener KZ-Verband sagt einige Worte. Die kleine Runde schweigt. Es ist ein berührender Moment.
In diesem Jahr gab es nach längerer Zeit wieder eine Kundgebung in Gedenken an Ernst Kirchweger direkt an der Wiener Oper, jenem Ort, an dem er vor 58 Jahren totgeschlagen wurde. Bei der Kundgebung in der Wiener Innenstadt sind trotz strömenden Regens immerhin einige Teilnehmende, mit denen wir gemeinsam an ihn gedenken.
Es ist wichtig, dass wir Antifaschist:innen an Ernst Kirchweger erinnern, seine Lebensgeschichte erzählen und aus der Geschichte um seinen Tod Schlüsse für die Gegenwart ziehen. Die Verknüpfung der FPÖ mit rechter Gewalt und rechtem Terror hat in Österreich Kontinuität, die uns nur dann bewusstwerden kann, wenn wir uns die Vergangenheit genau ansehen. Gleiches gilt für die juristische Nicht-Aufklärung rechter Gewalt. Wir können im Prozess gegen Günther Kümel, der trotz seiner Tätigkeit als Kampfsportler und seiner neonazistischen Vorgeschichte lediglich wegen Notwehrüberschreitung verurteilt wurde, dieselben Dynamiken wie in aktuellen Prozessen gegen Neonazis sehen: Rechte Straftaten werden relativiert und Neonazis kommen mit skandalös milden Urteilen davon; antifaschistisches Engagement wird hingegen kriminalisiert.
Ernst Kirchweger darf nicht vergessen werden. Er wurde von seinen Genoss:innen als „unbeugsamer Antifaschist“ beschrieben. Er war sowohl im Widerstand gegen den Nationalsozialismus sowie in der Zweiten Republik antifaschistisch aktiv und wurde Jahre später bei dem Protest gegen (Neo-)Nazis in Wien von einem solchen getötet. Ihm zu gedenken, bedeutet auch selbst zu kämpfen: gegen das Erstarken der extremen Rechten und für eine befreite Gesellschaft.
Nächstes Jahr am 31. März 2024 wird es wieder ein Gedenken am Grabstein von Ernst Kirchweger geben. Bis dahin haben wir Antifaschist:innen genug zu tun.
Die Gruppe für organisierten Antifaschismus [wien] vertritt einen anti-autoritären Antifaschismus, dem eine linksradikale, anarchistische und/oder kommunistische Gesellschaftsanalyse zugrunde liegt. Um Antifaschismus zielgerichtet, strategisch und langfristig zu organisieren, soll von reaktionären Ideologien in der Gesellschaft über die rechtsextreme FPÖ bis zum militanten Neonazismus alles bekämpft und sabotiert werden, was der befreiten Gesellschaft im Wege steht.
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